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Warum Kinderkunst mehr ist als nur Kritzelei

  • farbolino
  • 28. Juli
  • 6 Min. Lesezeit

Viele Erwachsene lächeln über die wirren Linien und Flecken, die Kleinkinder auf Papier bringen. Doch das vermeintliche „Gekritzel“ ist der Anfang einer künstlerischen und motorischen Entwicklung und eine wichtige Ausdrucks‑ und Lernform. Kinderzeichnungen sind mehr als Zufallsprodukte – sie zeigen innere Prozesse, fördern Feinmotorik, Sprache und Selbstbewusstsein und verraten oft mehr über das Kind als lange Gespräche. Der folgende Beitrag erklärt, warum man Kinderkunst ernst nehmen sollte, was sich hinter der Kritzelphase verbirgt und wie Eltern und pädagogische Fachkräfte das kindliche Zeichnen sinnvoll begleiten können.


Wie alles beginnt: Die Kritzelphase als Grundlage


Die ersten bildnerischen Spuren entstehen meist zwischen dem 1. und 3. Lebensjahr. Kleinkinder entdecken, dass sie mit einem Stift Bewegungen festhalten können. Das Bedürfnis nach Bewegung und die Freude am Spuren‑Hinterlassen sind die wichtigsten Antriebe: Das Deutsche Jugendinstitut weist darauf hin, dass ein Kind in der Kritzelphase lernt, dass der Stift im Gegensatz zum „Spurenschmieren“ mit dem Finger eine dauerhafte Spur hinterlässt; dieses Bewusstsein bildet laut Eberhard Brügel die Basis für die weitere Entwicklung[1]. Aus dem Hieb‑ und Schwungkritzeln entstehen allmählich Kreise, Spiralen, Punkte und Kreuzformen[2].


Auch die Erzieherinnen‑Plattform ErzieherIn.de betont, dass das Kleinkind zuerst Bewegungen der Eltern nachahmt und aus Punkten und Spiralen das sogenannte Urwirbelknäuel* und später den Urkreis formt. Diese Gebilde sind Ausdruck einer intensiven Erkundung der eigenen Motorik und der Freude am Ausprobieren[3]. Das Kleinkind entwickelt dabei zugleich sein Bewusstsein als eigene Person; zwischen 18 und 24 Monaten erkennt es sich als „Ich“ und bringt dieses neue Selbstgefühl durch Verdickungen der Spirale, den Punkt in der Mitte oder das Kreuz zum Ausdruck[4].

Zu dieser frühen Phase gehört eine enorme individuelle Bandbreite. Die Malentwicklung wird laut der Seite erzieherin‑ausbildung.de grob in folgende Stadien unterteilt[5]:

Stadium

Kennzeichen

Schmieren (ca. 8–18 Monate)

Kind erkennt, dass es mit der Hand eine Spur hinterlassen kann.

Unspezifisches Kritzeln

Stift wird in den Mund genommen, es wird beidhändig gehauen.

Hiebkritzel

Grobmotorische Schwung‑ und Kreisbewegungen aus der Schulter.

Kreis‑ und Schwingkritzel

Kreise und Schwunglinien aus dem Ellenbogen; daraus entwickeln sich Formkritzel.

Form‑ und Schreibkritzel

Kind imitiert Schreibbewegungen, ohne Buchstaben zu erkennen; es kombiniert verschiedene Kritzelzeichen[6].

Diese Stufen folgen keiner strengen Reihenfolge – Kinder wechseln zwischen verschiedenen Kritzelzeichen hin und her. Wichtig ist, die Phase nicht zu unterschätzen: Brügel schildert, wie ein Vater die Kritzeleien seines Sohnes wegwirft, während er die sauber abgezeichnete Kuh seiner Tochter aufbewahrt. Damit zeigt er unbewusst, dass Kritzeleien „unsinnig“ seien, obwohl die Tochter lediglich ein vorgeprägtes Logo nachzeichnet[7]. Gerade diese Haltung verdeutlicht, wie wenig Wert Erwachsene der eigentlichen Kinderkunst beimessen.


Mehr als motorische Übung: Was Kritzeleien ausdrücken


Der Kunstpädagoge Wilhelm Grözinger sieht Kritzeleien als „Klopfzeichen an unsere Sinne aus einem Bereich, der beim Erwachsenen längst verschüttet ist“[8]. Das Kind male nicht, um Kunst zu erschaffen, sondern um sich die Welt erfahrbar zu machen. Abgesehen von der Kritzelphase ist das Kind „Realist und meint eine Welt zu treffen“[9] – es bildet nicht Fantasiewesen, sondern reflektiert im Zeichnen sein Erleben. Für den Pädagogen Arno Stern, der mit dem Konzept des Malorts bekannt wurde, hat die Kinderzeichnung gar keinen kommunikativen Zweck: Kinder zeichnen nicht, um Erwachsenen etwas mitzuteilen oder zu gefallen. Stern betont, dass Kinderbilder keine Botschaften und keine Fantasieerzeugnisse sind[10]. Vielmehr entstehen die Spuren aus einer inneren Notwendigkeit; sie sind Teil eines universalen Gefüges, das Stern „Formulation“ nennt[11]. Seine These: Erwachsene täuschen sich, wenn sie meinen, Kinder wollten mit ihren Bildern kommunizieren – diese Haltung führe dazu, dass Kinder gezähmt und abhängig gemacht würden[12].


Die Entwicklungspsychologin Erika Butzmann erklärt, dass Kinderzeichnungen „Photographien ihrer Seele“ sind – das Kind zeichnet unbewusst, womit es sich innerlich beschäftigt[13]. In den frühen Jahren spiegeln die Spiralen und Kreuze das Erleben des Kindes: Sie zeigen die allmähliche Ablösung von der Mutter, den Gewinn eines eigenen Standpunkts und den Wunsch, auf andere zuzugehen[14]. Diese Entwicklung verläuft weltweit ähnlich, wird aber kulturspezifisch unterschiedlich dargestellt[15].

Auch aus medizinischer Sicht liefern Kinderzeichnungen wertvolle Hinweise. In der Zeitschrift Pädiatrie up2date wird betont, dass das Zeichnen in der kinderärztlichen Praxis dem Beziehungsaufbau dient und eine gute emotionale Basis schafft[16]. Zudem können Zeichnungen zusammen mit den sprachlichen Äußerungen eines Kindes Aufschluss über den geistigen Entwicklungsstand, die visuomotorischen Fähigkeiten und die Wahrnehmung geben; sie sind ein nützliches ergänzendes Verfahren, sollten aber niemals als alleiniges Diagnoseinstrument dienen[17]. Gleichzeitig warnen die Autoren davor, überzogene Normerwartungen an die zeichnerische Begabung zu stellen. Negative Rückmeldungen und Verbesserungsvorschläge können dazu führen, dass ein Kind die Lust am bildnerischen Gestalten verliert[18].


Schritt zur Schrift: Scribbles als Vorläufer des Schreibens


Neuere Erkenntnisse aus der Frühpädagogik zeigen, dass Kritzeleien der erste Schritt zum Schreiben sind. Die amerikanische Plattform Better Kid Care beschreibt scribbling als eine Art, wie Kinder „ihre Gedanken aufschreiben“. Die vermeintlich sinnlosen Linien sind „die ersten Schritte beim Lernen zu schreiben“[19]. Um diese Entwicklung zu fördern, sollte man Kindern jederzeit Papier, Stifte und Farben bereitstellen[20]. Wichtig ist auch die Haltung der Erwachsenen: Statt zu fragen „Was soll das darstellen?“ empfiehlt Better Kid Care, Kindern zu helfen, über ihr Tun zu sprechen, z.B. „Du hast hier viel Druck ausgeübt“ oder „Wie hast du diese Linien gemacht?“[21].


Der US‑amerikanische Verband NAEYC betont in seinem Artikel „A Scribble Is Never Just a Scribble“, dass Erzieherinnen Kinder zu Geschichten über ihre Bilder anregen und diese Geschichten auf das Blatt schreiben sollten. Mit der Zeit gaben die Kinder den vormals weggeworfenen Scribbles Wert und erzählten ganze Geschichten dazu[22]. Die Autorinnen weisen darauf hin, dass diese Praxis narrative Kompetenzen, Literacy und das Selbstwertgefühl stärkt und das kindliche Denken sichtbar macht. Der Satz „A scribble is never just a scribble – wir sollten stets offen sein für die wahre Tiefe und Schönheit im kreativen Geist eines Kindes“[23] fasst diese Haltung zusammen.


Pädagogische Tipps: Wie Erwachsene Kinderkunst fördern können


Kinder brauchen Zeit, Raum und wertschätzende Begleitung, um sich künstlerisch zu entfalten. Folgende Empfehlungen lassen sich aus Forschung und Praxis ableiten:


  1. Materialvielfalt bieten: Gib Kindern unterschiedliche Stifte, Pinsel, Kreiden und Papierformate. Laut Brügel ist auch das Material ein Motivator; Kinder probieren verschiedene Stifte aus und erfahren deren Gestaltungsmöglichkeiten[24].

  2. Nicht interpretieren, sondern begleiten: Fragen wie „Was hast du darstellen wollen?“ zwingen das Kind laut Stern zum Vorspielen und führen zur Abhängigkeit[25]. Stattdessen sollten Erwachsene offene Kommentare geben („Schau, wie lang diese Linien sind“) und das Kind fragen, ob es etwas dazu erzählen möchte[21].

  3. Anerkennen statt bewerten: Hänge Kinderzeichnungen auf und behandel auch Kritzeleien als wertvolle Werke[26]. Negative Rückmeldungen oder vorschnelle Interpretationen können die Motivation mindern[18].

  4. Gemeinsam kreativ sein: Die Seite erzieherin‑ausbildung.de rät, mit Kindern gemeinsam zu malen, ausreichend Papier bereitzustellen und verschiedene Maltechniken auszuprobieren. Verbesserungsvorschläge sollten vermieden werden[27].

  5. Zeit geben und Vielfalt zulassen: Kinder durchlaufen die Phasen des Kritzeln, Kopffüßlers, Vor‑ und Schemaphase in ihrem eigenen Tempo[28]. Sie dürfen zu früheren Kritzelzeichen zurückkehren, ohne dass dies als Rückschritt bewertet wird[29].

  6. Beziehung und Kommunikation fördern: In der ärztlichen und pädagogischen Praxis kann gemeinsames Zeichnen ein Türöffner sein. Es schafft eine vertrauensvolle Basis und gibt Hinweise auf den Entwicklungsstand[30].

  7. Sprich über Gefühle: Zeichnen hilft Kindern, Gefühle auszudrücken. Better Kid Care empfiehlt, Kinder bei Trennung oder Stress zu ermuntern, einen Brief zu schreiben oder ein Bild zu malen[31].


Fazit und Ausblick


Kinderkunst ist weit mehr als dekoratives Beiwerk. Kritzeleien sind die ersten visuellen Spuren, in denen Kinder ihre Bewegungen, Gefühle und ihr Weltbild festhalten; sie bilden die Grundlage für spätere Zeichen‑ und Schreibfähigkeiten und fördern kognitive, sprachliche und emotionale Entwicklung. Erwachsenen fällt es oft schwer, die Schönheit und Bedeutung dieser einfachen Linien zu erkennen. Wenn wir aber die Perspektive wechseln und die kindlichen Spuren ernst nehmen, entdecken wir eine faszinierende innere Welt – „Klopfzeichen“ aus einem Bereich, den viele Erwachsene vergessen haben[8].

Eltern und pädagogische Fachkräfte können diese Entwicklung unterstützen, indem sie Material und Raum zur Verfügung stellen, ohne zu bewerten oder zu verbessern, und indem sie den Prozess würdigen und Kindern Gelegenheit geben, über ihre Kunst zu sprechen. So wächst aus der vermeintlichen Kritzelei echtes Selbstvertrauen, Kreativität und die Freude an der eigenen Ausdrucksfähigkeit – und das ist die beste Basis für weitere Lern‑ und Entwicklungsprozesse.



[1] [2] [7] [24] [29] 672_14917_Expertise_Bruegel.pdf

[3] [4] [14] [15] Kinderzeichnungen und die Entwicklung des Selbsterkennen | ErzieherIn.de

[5] [6] [27] [28] Malentwicklung von Kindern: Einblick und Vergleichstabelle

[8] [9] [10] [11] [12] [13] [25] Jamieson 2024 - Die Kinderzeichnung bei Sophie Morgenstern (Dissertation).pdf

[16] [17] [18] [30] Thieme E-Journals - Pädiatrie up2date / Abstract

[19] [20] [21] [26] [31] Scribbles have meaning — Early Learning Professionals — Better Kid Care

[22] [23] A Scribble Is Never Just a Scribble: Art, Story, and Process | NAEYC

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